Sonntag, 26. September 2010

Mittwoch, 15. September 2010: Provisorien und das Schlaraffenland

Am Vormittag besichtigen wir die Kathedrale von Toulouse - eben nicht St-Sernin, sondern St-Étienne. Insgesamt ein Musterbeispiel für die Dauerhaftigkeit von Provisorien und ein Lehrstück für die Lektion, dass man sogar Provisorien so anlegen sollte, dass sie mit dem Vorhandenen harmonieren. In der dem heiligen Stephan geweihten Bischofskirche hat man das nicht gemacht und hat dafür jetzt die krummste Konstruktion, die man je gesehen hat: der Chor liegt nicht in der Verlängerung des Langhauses, sondern ein Stück nach links versetzt. Wenn man durch das Seitenportal eintritt, hat man praktisch zwei Kirchen vor sich: vorn links den sehr langgezogenen Chor, vergleichsweise hell, rechts hinten eine etwas dunkle, aber (auch in Anbetracht ihres Alters) beeindruckend große Halle mit beinahe quadratischem Querschnitt von etwa 19 Metern Breite und 19 Metern Höhe. Im Nirwana dazwischen haben sich geplagte Architekten und/oder Ingenieure des Mittelalters "einen abgebrochen", um die Lücke zwischen dem schönen hellen Neubau und dem nun doch nicht abgerissenen "alten dunklen Loch" zu überdachen. Im Nirwana-Fußboden, mitten auf der Bewegungsfläche, weist eine schon ganz abgenutzte Bodenplatte darauf hin, dass hier an dieser Stelle der besagte Kanalbauer Riquet begraben liegt. Gerade vorher, sagte Burkhard hinterher, habe jemand mit schwarzer Farbe die Schlüsselwörter (… Grab … von … Riquet …) erneut nachgezogen - anders kann man es auch nicht vor dem großen Vergessen retten, denn die eingemeißelten Buchstaben sind praktisch nicht mehr lesbar. - Die Kirche hat noch ein schön geschnitztes Chorgestühl und einige schöne und alte Fenster, woran ich die Stärken meines neuen Fotoapparats prima ausprobieren konnte. Der ist schon gut! Nur zwei große Schwächen: dass man nicht im gezoomten Zustand zwischen Bildern vor- und zurückblättern kann und dass Makroaufnahmen nicht so gelingen wollen wie mit dem alten.

Den Vorplatz teilt sich St-Étienne mit der Präfektur; am Brunnen mit einem kleinen Obelisken gießen dunkle Putten mit heiteren Mienen permanent Wasser nach. Die scheinen die Sonne auch zu genießen.

Am späten Vormittag fahren wir aus einer offenbar chronisch verstopften Stadt hinaus (wohl auch ein paar cgt-Aktivisten unterwegs, das ist die kommunistische Gewerkschaft, wenn ich mich recht erinnere - klingt heutzutage so furchtbar unzeitgemäß …). Es geht hinaus zu unserem nächsten Ausflug ins Lauragais. Unsere Franzi bugsiert uns wieder irgendwohin und verkündet dann, wir seien am Ziel. Bitte?! Wo? In Vaux? Vaux denn?, äh, wo denn? Wir finden trotzdem hin zu dieser kleinen Ansammlung von Häusern. Die Kirche hat die typische Glockengiebelwand, und gegenüber liegt ein etwas renovierungsbedürftig wirkendes Renaissanceschloss, vor dessen Südwand prächtiger Akanthus geradezu wuchert. Nichts, wo man sich länger aufhalten müsste, aber der helle Natursteinbau unter blauem Himmel in der stillen, gedämpften Spätsommermittagshitze hat seinen Reiz.

Wir fahren weiter nach St-Félix-Lauragais, dem Hauptort dieser eher milden Landschaft ohne Extreme, die in Reiseführerlyrik folgendermaßen zu beschreiben ist: " … fruchtbares, ebenes Land, in dem anmutige Backsteinbauten, Kirchen mit Glockengiebeln im Stil der Toulouser Gotik und Schlösser an den einstigen Reichtum erinnern, den der Färberwaid dem 'Pays de Cocagne' - Schlaraffenland - beschert hatte." (Aus dem grünen Michelin-Reiseführer Pyrenäen - leider ist das der einzige, den wir in den Kölner Buchhandlungen über Toulouse und Umgebung finden konnten. Die anderen Verlage lassen zwischen dem Südwesten und dem Languedoc-Roussillon offenbar einen weißen Fleck. Und toll ist der grüne Michelin irgendwie nicht.)

Eigentlich habe ich ja bei allem, was Felix heißt, Vorbehalte, aber wenn es ein heiliger ist, kann man ja mal 'ne Ausnahme machen … In St-Félix öffnet sich nach engen Gassen ein wunderbarer Platz, der nach einem gewissen Guillaume de Nogaret benannt ist. Fachwerkhäuschen auf einem wirklich sehr großen Platz, den eine der offenen Markthallen beherrscht. In diesem Fall steht rechts dahinter ein rundes Türmchen, von dem eine weiße Marienstatue gnädig, aber ohne großes Interesse auf den Platz herunterlächelt. Uns lacht da schon mehr das nette kleine Restaurant an einer Ecke des Platzes an, weshalb wir uns dort niederlassen, um eine Kleinigkeit zu essen. Der Wirt entpuppt sich als Österreicher, der hier nun schon seit zwanzig Jahren dieses Etablissement betreibt. In dieser Zeit hätten sich Land und Leute merklich geöffnet … jaja, nicht nur China hat das nötig. ;-)) Und in der Tat sind übrigens jede Menge Engländer unterwegs, und man sieht schon mal zweisprachige Beschriftungen und hört schon mal Leute ein wenig Englisch reden, das sogar als solches erkennbar ist. Früher war es ja oft so, dass man erst nach zwei Minuten gemerkt hat, dass diese unbekannte Sprache mit der französischen Sprachmelodie Englisch darstellen sollte - und dann war's fürs Verstehen schon zu spät.

Außer dem netten Platz hat St-Félix noch eine wenig bemerkenswerte Kirche, in der die Stuckdekoration nur gemalt ist, und ein Schlösschen mit einer Terrasse, von der aus man weit ins Land schauen kann. Pyrenäen, Montagne Noire - um nach Norden zu schauen, muss man ein Stück weiter gehen. Eine alte Windmühle im Vordergrund und weiter hinten Schlösser, Dörfer und Kirchen: alles sehr idyllisch.

Dieses eine Schloss da, das wir gesehen haben: da wollen wir jetzt hin. Montgey müsste das heißen. Wir kommen näher und haben noch einen hübschen Blick über ein Sonnenblumenfeld hinweg, das jetzt schon abgeerntet ist - eine Nachzüglerin blüht aber noch, weshalb Burkhard sich zum Fotografieren ins Zeug, d. h. in diesem Fall ins Feld legt. Er hat jetzt ein schönes Foto mit Sonnenblume, ich hab eins mit liegendem Fotografen. :-)))))

Oben auf dem Hügel versteckt sich das Schloss ein bisschen vor uns, also schauen wir bloß von diesem Platz vor der obligatorischen Kirche ins Land (sieht so ähnlich aus wie vom Nachbarhügel, na sowas) und fahren dann gleich weiter, denn wir wollen unbedingt zum Château de Magrin, um der Geschichte des Färberwaids nachzuspüren, und es wird schon etwas spät.

Gegen viertel nach vier haben wir dieses Schlösschen gefunden - liegt auch eher an einem dieser vielen Enden der Welt, die es in der französischen Provinz in großer Zahl gibt. Oha, bloß noch bis 17 Uhr geöffnet, und der Eintritt kostet 8 Euro pro Nase. Hm. Vermutlich ist es der Schloßherr selbst, der uns zunächst auf den Dachboden führt, wo in bester Bastlermanier ein Videosaal aufgebaut ist, in dem wir dann eine etwas langatmige DVD ansehen sollen, auf der das Schloss selbst aus seinem langen Leben erzählt. Die Anfänge sind mittelalterlich, dann gab es die Färberwaid-bedingte Blütezeit, in der den bis dahin schon ruinierten Burgbauten das schöne Renaissancegebäude hinzugefügt wurde. - Im Zwischengeschoss kann man noch die alten Trockengestelle für die Waidbälle (cocagnes) sehen. Im Erdgeschoss befindet sich das Museum, so eins Marke Eigenbau von vor 30 Jahren, das meiste recht verblichen und mit handschriftlichen oder maschinengetippten Erklärungszettelchen. Eine der beiden Cocagnes haben in der Vitrine die jetzt auch mumifizierten Würmer zerfressen … Versteh' schon, warum der Eintrittspreis so hoch ist …

Danach werden wir noch hinters Haus geführt (wenigstens nicht hinters Licht), wo wir zuerst die wiederaufgebaute Mahlvorrichtung besichtigen dürfen. Früher habe es davon im Pays de Cocagne, dem Dreieck zwischen Toulouse, Albi und Carcassonne (Magrin liegt ziemlich genau in der Mitte), 800 bis 1000 gegeben, von denen wohl nicht einmal eine Handvoll erhalten sind. Sieht aber auch nicht viel anders aus als etwa eine traditionnelle Ölmühle zur Gewinnung von Olivenöl. Das Bemerkenswerte sei, dass die ausgeklügelte Mechanik es erlaube, den zwei Tonnen schweren Mahlstein buchstäblich mit links in Bewegung zu versetzen. Ein Pferd war nämlich früher mindestens so teuer wie ein ordentliches Auto heute und musste daher auch geschont werden. So konnte es die Mühle nebenbei betreiben. Im Garten zeigt uns der sehr engagiert wirkende Schloßherr mit den Allüren eines zerstreuten Professors noch einen pastelblau angestrichenen hölzernen Wagen und hebt die Wirkung des Färberwaids als natürliches Holzschutzmittel hervor, weshalb man mittlerweile auch den entsprechenden Wirkstoff von Isatis tinctoria (so der botanische Name) in "ernsthaften" Produkten einsetzt. Und dann bekommen wir auch die Pflanze selbst gezeigt. Sie ist zweijährig und kommt im ersten Jahr als eine absolut unscheinbare Rosette länglicher, dunkel-graugrüner Blätter daher, die man bis zu sechs Mal abschneiden und zu blauer Farbe verarbeiten kann (die übrigens sowohl zum Färben von Stoff wie auch zum Streichen verwendet werden kann). Im zweiten Jahr blüht sie gelb. - Ein paar Meter weiter steht auch die exotische Konkurrenz: die völlig unattraktive, aber in der Färbewirkung viel effizientere Indigopflanze. Die hat, aus den Kolonien kommend, zusammen mit den Religionskriegen dem florierenden Pastel-Handel und dem daraus erwachsenden Reichtum nach einer nur kurzen Hochzeit von etwa 60 Jahren ein vergleichsweise jähes Ende bereitet. - Wir verzichten darauf, die ganze Geschichte noch vom Band (deutscher Audioguide) nachzuhören; dann ist der Besuch zu Ende. Vor dem Tor wächst noch eine andere interessante Pflanze. Sie hat blassgelbe Blüten und Früchte, die aussehen wie etwas langgezogene Klatschmohnknospen, in der Form wie kleine dicke Gürkchen. Der Schlossherr warnt uns noch: das seien Knallgurken (ich meine, er hat concombres pétards gesagt). Und das hatte Burkhard auch schon festgestellt. Wie beim Springkraut verteilt die Pflanze ihre Samen durch Explosion der Früchte. Die reifen "Gurken" schießen in der Tat bei der leisesten Berührung zerplatzend erst einmal hoch in die Luft und spritzen ihren "Gurkensaft" mitsamt den braunen Samenkörnern meterweit in die Gegend. Huch! (Spätere Anmerkung der Redaktion: Die sind ja auch noch giftig!) 

Auf dem Rückweg fahren wir noch in Loubens-Lauragais vorbei. Ein weiteres Nest mit Schlösschen, das sich samt blauem Himmel in einem ganz kleinen Ententeich spiegelt. Der bemerkenswerte Garten hat natürlich geschlossen - nicht nur um diese Uhrzeit, was zu erwarten war, sondern im September auch in der Woche. Na ja, dann fahren wir eben gleich zurück nach Toulouse.

Am Abend gehen wir nicht ins Restaurant, sondern ins Fachgeschäft für Fisch und Meeresfrüchte, wo man auch sitzen und die Produkte gleich vertilgen kann. Es ist wie wenn der Friseur von mir sagt, ich hätte keine Frisur, sondern bloß Haare. Hier gibt es auch keine Speisen, sondern eben bloß Fisch und Meeresfrüchte (auch wenn ein paar Beilagen buchstäblich beiliegen). Aber die in Perfektion zubereitet! Köstlich! Wir gönnen uns Austern und danach Thun- und Tintenfisch. - Dem Geschäftsmodell entsprechend verzettelt sich der Fischzubereiter nicht mit Desserts (sicher nicht sein oder ihr Ding), sondern beschafft den Nachtisch "Chez Betty", was in Toulouse eine Institution in Sachen Milchprodukte und Käse zu sein scheint, denn das hatte ich auch schon woanders gesehen. Der Wermutstropfen: der Milchreis von Chez Betty war aus. So ein Pech. Aber der Café gourmand mit kleinen Leckereien war auch nicht übel.

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