Heute muss ich mal Bötchen fahren und raus aus der Stadt, auf die Friedhofsinsel San Michele. Eigentlich wollen wir vorher in die Ca d'Oro, aber die hat heute ausnahmsweise über Mittag geschlossen. Besichtigt wurden also auf dem Weg zur Vaporetto-Haltestelle "Fondamente Nuove" nur diverse Kirchen, die zwar theoretisch alle ihren Tintoretto oder Tizian haben, praktisch aber nur Kopien ausstellen. Bei den heiligen Aposteln hängt die Tintoretto-Kopie lieblos in einem "Schmuckstück" von Renaissancekapelle von einem gewissen Mauro Codussi (mir gefällt's trotzdem nicht), prachtvoller geht es schon in der Jesuitenkirche der himmelgefahrenen Maria zu. Hier meint der Reiseführer "eine Orgie aus grünem und weißem Marmor", und das stimmt wohl auch. Die ziemlich große Kirche ist mit dieser Orgie (Einlegearbeiten im Stil venezianischer Tapeten aus dem besagten Marmor in zwei Farben) dafür zwar etwas sehr pompös, aber doch auch einheitlich gestaltet. Der Tizian gleich vorne links ist schon beeindruckend, was den Umgang mit Licht und Finsternis betrifft. Es zeigt das Martyrium des heiligen Laurenz, der bekanntlich auf dem glühenden Rost gegrillt wurde. Die Feuerglut von unten und eine göttliche "Lichtexplosion" von oben dominieren die dunkle Szenerie.
Apropos Licht: zwischendurch waren wir noch beim lettländischen Biennale-Kollateralereignis: artificial peace, künstlicher Friede, heißt das Werk einer Künstlerin aus Riga. Eine Installation von vermutlich leicht kolorierten Leinwänden mit Schwarzlicht. -
Noch ein paar Meter nach Norden, und man hat die "Rückenflosse" des venezianischen Fisches erreicht (einfach mal einen Plan der Lagunenstadt anschauen, dann erschließt sich das Bild). Hier an den Fondamente Nuove fahren die Linien 41 und 42, die auf der Friedhofsinsel anlegen. Ich kaufe Tickets und verlange "zweimal nach San Michele", was mir die leicht verwunderte Rückfrage "und zurück?!" einbringt. Sicher doch, ich will ja nicht gleich da bleiben!
Während wir noch auf den (oder das?) Vaporetto warten, fährt ein Motorboot mit blumengeschmücktem Sarg darauf voraus, ein zweites mit der Trauergesellschaft hinterher. Als wir später die Kirche erreichen, stehen Sarg, Gesellschaft und Priester schon zum Abmarsch bereit im Kreuzgang und schreiten dann auch unmittelbar zur Beisetzung.
Gleich vorn in diesem Gebäudekomplex befindet sich ein Gedenkstein für Christian Doppler, den Finder des gleichnamigen Effekts. Auch sonst gibt es ein paar Berühmtheiten zu besuchen, wenn auch nicht so viele wie auf den Pariser Friedhöfen sind. Und der Zettel, den man als Findehilfe bekommen kann, leistet dem Vorurteil Vorschub, die Italiener seien chaotisch und unorganisiert. Diaghilev und Strawinsky finde ich trotzdem, und noch einige mir unbekannte Prominente. Auch einen gewissen Modest Bakunin - aber der ist nirgendwo genannt. Scheint auch mit dem russischen Revolutionär oder was der war nichts zu tun zu haben. - Auf dem griechischen und dem evangelischen Teil des Friedhofs liegen sowieso die interessantesten Gräber - jede Menge Ausländer von überall her, die in Venedig dahingeschieden sind. Demenstsprechend sieht man auch Grabdenkmäler in allerhand Sprachen; auf dem griechischen Teil viele auf Russisch oder eben Griechisch, auf dem evangelischen Teil auch Englisch, Schweizerisch, Holländisch, Ungarisch, Deutsch, Österreichisch ("Schlummere sanft!") … die Gräber sind oft ziemlich alt, aus dem 19. Jahrhundert - wenn man nun so gar keinen Platz hat, könnte man vielleicht doch mal ans Auflassen denken, zumal viele Denkmäler schon ganz verfallen sind.
Wie immer hat so ein Friedhof so viele unerzählte Geschichten: das Doppelkindergrab, geb. 21.12.1957, gest. 24.12.1957 das eine, geb. 29.3.1959, gest. ?.8.1959, wie traurig. Oder die junge Amerikanerin aus New York, die Angetraute von Dottore Angelo Zucchi, die im Alter von 26 Jahren starb und drei Bambini hinterließ. Oder der gut über siebzigjährige Vater (?), der zwei Jahre vor seinem Tod noch den Sohn im Alter von 34 1/2 Jahren zu Grabe hatte tragen müssen. Und, und, und. Mittlerweile, so habe ich gelesen, werden Erdbestattungen möglichst vermieden, da der Boden sehr salzhaltig sein soll, was die Verwesung behindert - geht wohl mehr in die Richtung "Salzheringe". In einer Ecke standen auch mehrere massive (Linden-?)Holzpflöcke … wenn die da alle so gut erhalten sind … Allerdings machen die Mücken möglichen anderen Blutsaugern heftige Konkurrenz. Meine Beine sind ja schon von den Vortagen mit roten Quaddeln verziert, die anfallsweise heftig jucken - aber hier haben alle Mädels plötzlich lange Arme mit Kratzhändchen dran.
Vorsichtshalber ist die Insel auch ganz von Mauern umgeben. Im Süden geben drei vergitterte Tore einen Blick auf die ziemlich unspektakuläre Skyline von Venedig frei. Hier führen auch Stufen ins Meer, aber weiter als bis vor die vergitterten Tore kommt man nicht. - Unweit von dieser Maueröffnung steht eine Bank im Schatten der Zypressen, auf der es sich wunderbar aushalten läßt: die Luft ist warm und (wirklich keine Übertreibung!) durchtränkt vom Zypressenduft, eine sanfte Brise weht von der Lagune zum Tor hinein und vertreibt wohl auch die Mücken, und vom Bootsverkehr draußen abgesehen ist es ruhig und still. Da hätte ich stundenlang sitzen bleiben können! Das Einzige, was mich anficht: ich habe San Michele irgendwie ganz anders in Erinnerung. Sprich: den Erinnerungen ist nicht zu trauen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Insel in der Zwischenzeit nennenswert umgestaltet wurde, erscheint doch extrem klein. Im Moment soll es allerdings ein Erweiterungsprojekt geben, das bis 2013 fertiggestellt wäre …
Wir fahren aber dann doch zurück; die Fahrt ist in Nullkommanix vorbei. So richtig als Bötchentour kann man es eigentlich gar nicht gelten lassen. Wir kehren zunächst in einer Bar ein und trinken DAS Modegetränk, einen Gingerino: knallorange, knallsüß, knallbitter. Nicht unangenehm und hier zu ungefähr jeder Tages- und Nachtzeit buchstäblich in aller Munde, oft wohl auch mit was-weiß-ich gemischt. Dann noch einen Cappuccino; das muss reichen für den Besuch der Ca d'Oro, die den Beinamen Galleria Franchetti trägt. So der Name des Mäzens. Wir sind aber ein bisschen enttäuscht: so toll erscheint uns die Sammlung nun auch wieder nicht. Jaja, Andrea Mategnas sorgfältig dekorativ mit Pfeilen durchbohrter heiliger Sebastian. Jaja, die Landschaften der holländischen Schule. Mir sagt sowohl des Titels wie des Sujets wegen mehr die "Madonna mit dem Sack" zu - völlig unzwingend hat sich ein dicker runder, fast weißer Sack - irgendwie schweinsförmig! - die Gesellschaft der heiligen Mutter erschlichen. - Interessant ist schon eher das Projekt, zwischen den alten Meistern einen Zeitgenossen ausstellen zu lassen. Seine Personen haben meist Schnäbel statt Nasen, die meisten Bilder sind "senza titolo", ohne Titel (wie ärgerlich! Meiner Meinung nach sollten Künstler sich zwingen, ihren Schöpfungen Namen zu geben - Namenloses verbleibt doch irgendwie im Embryonalstadium. Ist es in der biblischen Schöpfungsgeschichte nicht auch so, dass ein jedes seinen Namen bekommt und damit erst vollwertiger Bestandteil der Schöpfung wird??), und auf Erklärungstafeln stehen schwer verdauliche Texte über die Kunst an sich. Mir gefällt der kleine Interviewausschnitt am besten. Sinngemäß geht der ungefähr so: (Frage einer Journalistin:) Zuletzt haben mehr und mehr Künstler auch über Kunsttheorie gesprochen und ihre Position im gesellschaftlich-politischen Diskurs unter besonderer Berücksichtigung des philosophischen Environnements verdeutlicht; Ihre ist bislang im Dunkeln geblieben. Wollen Sie uns etwas über Ihre Position sagen? (Sorry, verhohnepipelt, aber irgendwie klang es genau so. Antwort des Künstlers:) Ja, also, wenn ich an großformatigen Werken arbeite, tue ich das im Stehen. Bei kleineren Formaten ziehe ich eine sitzende Position vor. Nichts anderes als Loriots berühmtes "Wir schlafen im Liegen!", nur dass in der transskribierten Version die verdeutlichende Geste fehlt.
Erwähnenswert ist auch noch der kleine Hof der Ca d'Oro. Die schönen gotischen Fenster, ein Terrakottabrunnen, sparsam verteilt Skulpturen "als greco" und der auffällig üppige vielfarbige Marmorfußboden vom Anfang des 20sten Jahrhunderts. -
Am Abend essen wir im "Ai Barbacani" - recht üppig, mit lokalem Einschlag (sarde in saor, seppie alla veneziana) und sehr nett. Wir wählen ein gutes Verfahren: eine italienische UND eine deutsche Speisekarte. Und nicht lachen, auf letzterer gibt es nämlich die Rubriken 'Vorspeisen', 'Ernster Gang' (sic!), 'Zweiter Gang'. Wenn ich nur nicht so furchtbar satt wäre. Und das ganz ohne Dessert!
Donnerstag, 15. September 2011
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen