Samstag, 17. September 2011

Freitag, 16. September 2011: Das Extra: Barockkonzert

Der Hochkultur am Abend geht leider niedere Esskultur voraus: Da wir vorher noch zum Hotel und um acht Uhr am Konzertsaal sein wollen (keine Platzkarten innerhalb der zwei Preiskategorien), wollen wir lieber nur eine Pizza essen. Die speziell empfohlenen Fladenbäcker liegen aber alle für besagte Zwecke ungünstig, so dass wir uns für eine zwar farbenfrohe (ich hatte eine recht italienische mit ricotta und spinaci auf dem Tomatensaucengrund), aber insgesamt paradoxerweise ziemlich farblose Pizza auf dem Campo Santo Stefano entschieden. Hinterher ist noch Zeit: Pizza ist eben wirklich ein Schnellimbiss. Aber, wie ich meine, kein Beinahe-Essen (fast food), sondern doch ein wenig besser. Wir gönnen uns also noch ein "kunsthandwerkliches" Eis (nämlich artigianale) und besichtigen den Flohmarkt auf dem Campo San Maurizio (?) - da gibt's auch wirklich nur alten Kram. Aber das ist ja wohl für die Flohmarkt-Adepten der Reiz: aus 1000 Schrottartikeln den einen wertvollen herauszufinden und dann womöglich noch zum Schnäppchenpreis zu ergattern. Und umgekehrt: für Sachen, die man eigentlich nur noch wegwerfen kann, noch Interessenten zu finden und wenigstens kleines Geld zu bekommen, das dann ja fast wie geschenkt kommt.

Dann werfe ich mich in ganz kleine Schale, und wir finden tatsächlich ohne allzu große Umschweife zu dem Platz an dieser einen Kirche zurück (super Beschreibung in Venedig, wie auch die Einheimischen, nach dem Weg befragt, angeblich immer mit der Auskunft "sempre diritto" weiterhelfen, immer geradeaus). Jedenfalls liegt hier das Gebäude der Scuola Grande di San Teodoro, in der sich das Musikereignis begeben soll. Ein nicht mehr ganz junger Herr in wenig stilechtem Ringelpoloshirt sorgt zunächst dafür, dass draußen ordentlich Schlange gestanden wird. Dann dürfen wir - übrigens: die Damen meist in kleiner Schale, die Herren meist in kompromisslosem Freizeitlook, gern auch mit kniekurzer Schlabberhose - brav in Zweierreihen in die Eingangshalle eintreten und noch braver ganz hinten um die Glasskulpturenausstellung herum bis zum Fuß der Treppe vordringen. Dass wir uns nicht an den Händen halten müssen, erscheint fast komisch. ;-)

Schließlich dürfen wir doch den Festsaal der Scuola betreten, der nun hier zum Konzertsaal gestaltet ist. Der Saal ist ja nicht schlecht, aber dass dies der prestigeträchtigste Konzertsaal in Venedig sei, halte ich doch für eine dreiste Lüge des Programmzettels. Schon allein deshalb, weil die Stuhlreihen aus stoffbespannten Drahtgestellsesseln bestehen. In der Scuola Grande de San Rocco hatte ich zu demselben Zweck transparente Design-Kunststoffstapelstühle gesehen …

Der Nachteil der Sitzgelegenheit: Je drei bilden eine Einheit mit einem gemeinsamen Rückenlehnenstoffstreifen, sprich: wenn eine/r sich vorbeugt, fallen die anderen ein Stück nach hinten, und vice versa. Welcher Designer verbricht sowas??!

Halbwegs pünktlich um halb neun kommen fünf Damen und ein Herr in mehr oder weniger sorgsam angelegter Kleidung des 18. Jahrhunderts herein, mit mehr oder weniger liebevoll aufgesetzten weißen Perücken. Zwei Violinen (die erste mit strenger Brille und irgendwie ungehalten wirkend), eine Viola (umwerfendes Lächeln!), ein Cello (knallrote Brille, nicht ganz stilecht zum cremefarbenen Gewand, aber in sich ruhend) und ein Kontrabass (leicht unsicher wirkend). Der kniehosige Herr mit den weißen Kniestrümpfen bedient das Tasteninstrument, das mal als Cembalo, mal als Orgel daherkommt; die moderne Technik macht's möglich.

Das erste Stück ist ein Concerto von Vivaldi, nichts besonders Bekanntes - die Barock-Hitparade fängt erst danach mit Albinonis Adagio an. Di-daadadaadadaaaaaada, du-daadadaadadaaaaada, di-dudidadidadaaaa … und so weiter. Danach rückt die ungehaltene erste Geige einen Notenständer in die Mitte der Bühne: Applaus für die allererste Geige, diese nun aber männlich. Man nimmt das Herzstück des heutigen Abends in Angriff: die vier Jahreszeiten (ouf! So ein Glück, dass es nicht die zwölf Monate sind. ;-)) ).

Dieses Werk ist ja nun vom vielen Hören schon ganz abgegriffen (schiefes Bild, ich weiß - aber schon fast wieder reizvoll schief!), insofern ist es gut, wenn durch live-Darbietung die Aufmerksamkeit noch einmal neu fokussiert wird. Ich "oute" mich jetzt auch wieder als Hör-Banausin (bin halt ein Augentier), wenn ich bekenne, dass die Klangfülle mich stets zu dem Glauben verleitete, die Jahreszeiten seien ein Orchesterstück, wo doch ein Streichsextett mit Cembalobegleitung voll ausreicht. Die Mimik der allerersten Geige ist auch sehenswert - zumindest meine Hand will die ganze Zeit mittanzen. Was mir (Augentier!) jetzt noch fehlt, ist die verfilmte Version: der Nebel, der sich über die Wiesen senkt, oder waren da auch Jagdhörner, die ich im Herbst gehört habe? Die klirrende Kälte, das bunte Treiben auf dem Eis … gibt's bestimmt; für sachdienliche Hinweise meiner werten Leser bin ich dankbar.

In der Zwischenzeit überfällt mich noch ein sprachphilosophischer Gedanke. Streicher kann man offenbar sehr unterschiedlich betrachten. Die Engländer schauen sehr auf die Saiten ("strings"), die Italiener mehr auf die Bögen ("archi") - da finde ich doch das Deutsche mit dem Schwerpunkt auf der Aktion des Mit-dem-Bogen-über-die-Saiten-Streichens sehr ansprechend, wenn auch die noch Pingeligeren einwenden könnten, es gäbe schließlich auch pizzicato.

Jedenfalls war das ein sehr nettes Konzert, auch wenn wir uns hinterher gut gekühlt trollen. Auf einer Sorte Plakat stand zwar "hall fully heated", aber das war wohl nur eine missverstandene Übersetzung für "klimatisiert".

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