Heute Morgen ist es erstmalig nicht ganz blau. Wohl sonnig, wohl ein bisschen blau, aber da sind doch relativ zahlreiche Wölkchen über der Fassade des gut renovierten Palazzo, auf den wir aus dem Hotelzimmer schauen. Der Blick ist relativ schön, und das Beste ist, dass zu dem Palazzo ein uns zuwandter Garten gehört, so dass es zwischen Hotelwand und Palastfassade genügend freien Luftraum gibt. Ganz unten führt übrigens kein Gässchen, sondern ein rio vorbei, auf dem, wenn man abends allzu früh zurück kommt, reichlich Gondeln mit schmalzenden Musikanten verkehren.
Wir gehen schon gleich um viertel vor zehn aus dem Haus bzw. Hotel, weil ich darauf spekuliere, dass um 10 Uhr Messe im Markusdom ist. Wir sind auch um kurz vor zehn da - aber Hochamt ist erst um halb elf. Macht ja nichts: wir dürfen problemlos hinein, denn Burkhard hat den Fotorucksack nicht dabei, meiner ist klein genug, das kurzärmelige T-Shirt bedeckt die Schultern, und der knielange Rock wird auch als "nicht unzüchtig" eingestuft. Im Mittelschiff stehen Klappsessel wie beim Konzert, nur besser, weil hier jeder seine eigene Rückenlehne hat. So haben wir also eine halbe Stunde Zeit, wenigstens die von unserem Platz sichtbaren Mosaiken zu studieren. Die Kirchendiener im dunklen Anzug wachen darüber, dass die zahlreichen Touristen (hatte ich mir schon gedacht, dass die Idee nicht soooo originell ist) nicht doch fotografieren. No foto! hallt es immer mal wieder grimmig durch die Kirche. Dann kommt die Abordnung der Priesterschaft, vier oder fünf in Grün, mehrere weißgewandete, auch eine Messdienerin mit Strassspange im sehr langen Haar. Das hier! Bald breitet sich der Weihrauchhauch bis zu uns aus.
Die musikalische Gestaltung liegt zum Glück meistenteils in den Händen eines ziemlich guten Chores - alles andere als Hausfrauensonderklasse! Dann kam die Nummer mit dem Zwischengesang: "Der Herr ist nahe allen, die ihn anrufen." Bei einem ein paar Reihen vor uns Sitzenden klingelt darauf das Mobiltelefon, und er kriegt's und kriegt's nicht aus, steht dann auf, geht raus - und ward nicht mehr gesehen. Die zweite Lesung wurde heute auf polnisch vorgenommen, von einem ebenfalls grünen Mitbruder aus Polen, der hier zu Gast war. Die Italiener hatten ein buntes Blättchen mit der Gottesdienstordnung für heute, für die Touris gab es ein Blättchen mit den Texten in vier Sprachen. Zum festen Bestand der Kirche gehört das Blatt mit dem Glaubensbekenntnis und dem Vaterunser in Latein, was auch beides so gesungen wurde. - Das Evangelium von heute war dieses Gleichnis von den Tagelöhnern im Weinberg, denen der Besitzer einen Dinar Lohn gibt, egal, ob sie erst zur elften Stunde angeworben worden waren oder "des ganzen Tages Last und Hitze getragen haben". Könnte man noch mal in die müßige deutsche Gerechtigkeitsdiskussion einwerfen. Daraufhin hat der Grüngewandete mit dem kardinalsrot gemusterten Unterkleid gepredigt. Das Schöne dabei: er hat vergleichsweise langsam und deutlich gesprochen. Ich habe die Ohren sehr gespitzt und bin fest überzeugt, dass ich fast alles verstanden hätte, wenn ich das Manuskript hätte mitlesen können. Inspiriert von den Arbeitern im Weinberg, hat er, glaube ich, einen sehr weiten Bogen gespannt, von der Schöpfungsgeschichte (seid fruchtbar und mehret euch, und macht euch die Erde untertan: durch Arbeit) bis zum ersten Satz der italienischen Verfassung, die sich auch auf die Arbeit bezieht, und hat über die Würde gesprochen, die Menschen aus der Arbeit beziehen, und über die Krise und die schlimme Jugendarbeitslosigkeit. Er hat auch mehrere Kommentare von Papst Benedikt zitiert und von etwas gesprochen, was irgendwelche Kirchenoberen mal zum Thema Arbeit formuliert haben - war das nun im 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts? - Wie auch immer; dann war Kollekte für Somalia und Eucharistiefeier, deren Vorbereitung mir irgendwie besonders langwierig vorkam. In der Zwischenzeit kamen durch die Oberlichter unter den Kuppeln zwei Sonnenstrahlen herein, die dank des geweihten Rauchs (gerade noch frisch nachgelegt) wunderbar deutlich schräg im Raum zu sehen waren. Gegen 11:40 Uhr hieß es dann "Andate in pace", gehet hin in Frieden. Und das haben wir dann auch gemacht. Die rechten Schurken fangen dann mit dem Fotografieren an, ts, ts, ts.
Wir gehen erst einmal zurück zum Hotel, die restliche Ausstattung einsammeln. Der Plan für den Nachmittag ist, das Ghetto zu besichtigen - da ist das Wochenende vorbei. Die eher unrühmliche Erfindung, Juden in einem Stadtviertel wenigstens nachts einzusperren, geht auf die Venezianer des 16. Jahrhunderts zurück. Und weil auf der Insel, die sie dafür vorgesehen hatten, ursprünglich eine Gießerei lag (ital. getto, venez. Geto, später also Ghetto), hatte diese Institution auch gleich einen Namen. Jedenfalls sei das eine wohl weit verbreitete Erklärung. Eine Anekdote am Rand: zuerst gab es in Venedig das neue Ghetto, dann das alte (sic!), und am Ende das neueste. Ungefähr zu diesen Zeiten muss es wohl die fast 5000 Einwohner gegeben haben, die es erforderlich machten, bis zu achtstöckige Häuser zu bauen: wahre Wolkenkratzer zu der Zeit. Damit sie nicht zuviel kratzten, waren die einzelnen Etagen ziemlich niedrig … Aus dieser Fülle erklärt sich auch, dass es auf ganz engem Raum fünf Synagogen gibt, die natürlich auch vorne und hinten nicht gereicht haben können. Wir haben heute drei der fünf besichtigt, und die hatten jeweils eher die Größe eines sehr üppigen Wohnraums. Was daran liegen mag, dass sie nachträglich in bestehende Häuser eingebaut wurden. In der ersten, der deutschen, wurde auch noch die "Kanzel" (weiß leider nicht, wie das richtig heißt) gemäß traditionellem Plan in der Raummitte installiert - aber die Statik war dagegen, der Boden sieht auch heute etwas gefährlich angebrochen aus. Daher wurde sie hier später "exzentriert" und in den weiteren Bauten gleich an die Seitenwand gesetzt. Übrigens machte nicht nur die Vielzahl der Beter die große Anzahl an Bethäusern nötig, sondern auch die Unterschiedlichkeit des Ritus. Denn in der venezianischen Seerepublik waren ja Juden aus aller Herren Länder zusammengekommen, zuerst deutsche und (ost-)europäische (ashkenazim), dann italienische vor allem auch aus Süditalien, die sich mit ersteren zusammentaten, dann spanische (auch "ponentinische"), die zusammen mit den ursprünglich spanischen von der Levante, also aus dem östlichen Mittelmeerraum, als sephardim bezeichnet werden und ihrem eigenen Ritus folgen.
Heute hat die jüdische Gemeinde von Venedig noch etwa 500 Mitglieder, von denen aber nur noch eine absolut verschwindende Minderheit von vielleicht 15 im Ghetto wohnt. Nach dem Ende der venezianischen Republik wurde 1797 auch die Ghettoisierung aufgehoben, so dass man es seit daher vermutlich vorzog, sich schönere Wohnungen zu leisten.
Außer den Synagogen haben wir auch das ganz schön hergerichtete Museum besucht. Sehr nett: die Wechselausstellung mit Werken eines offenbar jüdischen (oder doch des Hebräischen mächtigen) Künstlers, der mit Buchstaben und Zahlen seine Flächen füllt. Sehr typisch, und einige seiner Werke waren auch schon im italienischen Pavillon zu sehen und später im Schaufenster einer der zahllosen Galerien der Stadt. Aber auch die computergestützen Grafiken eines gewissen Franzosen namens Lalou gefallen mir gut - irgendwo an der Grenze zwischen Bild und Kalligraphie. L'aleph s'arrache à soi-même pour créer le monde (Das Aleph entreißt sich seiner selbst, um die Welt zu erschaffen) heißt ein SchriftBild mit dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets. Wobei ich zugebe, dass mich der Titel in diesem Fall vielleicht noch mehr beeindruckt als das Bild selbst - welch eine Idee!
Nach der Besichtigung der Ghetto-Sehenswürdigkeiten sitzen wir noch gemütlich auf dem großen Platz zwischen den alten Hochhäusern, als uns ein sehr plötzlicher Platzregen ins Haus treibt. Aber der ist zum Glück auch so schnell vorbei, wie er gekommen ist. Wir gehen am Canale di Cannaregio bis zum Ende der Stadt: von hier kann man prima die Verkehrssituation der Lagunenstadt quasi als Panorama bewundern. Linker Hand liegt die Straßenbrücke - quasi die Angelschnur, an der der venezianische Fisch angebissen hat. Es ist reichlich Bus- und PKW-Verkehr. Direkt vor einem und gleich rechts fahren Boote aller Arten, darunter die Vaporetti, die hier in den Canale einbiegen, vor sich kann man die Flieger im Landeanflug beobachten, und gnaz hinten rechts erkennt man bei genauem Hinschauen den Flughafen. Wir gehen am Canale di Cannaregio fast bis zum Canal Grande und dann Richtung Bahnhof. Grauenhaft, diese Touristenströme - aber viel schlimmer: die ganzen Buden mit allem Kram, den kein Mensch braucht, aber für teures Geld.
An der Piazzale Roma (Autoverkehr, igitt!) kann man die neue "Verfassungsbrücke" (kann ich ja auch nichts für, die heißt halt so) bewundern. Ich benutze sie auch, aber da fällt wieder Regen in ausgeprägten Tropfen, und Burkhard hat keine Lust, den öffentlichen Park auf der anderen Seite des Canal Grande zu besuchen. Also gehen wir zurück und essen im Gam Gam angeblich koscheres Essen. Die gemischte Vorspeise mit Falafel ist jedenfalls sehr lecker - wie oft bei Essen aus dem vorderen Orient wäre es das Beste, sich an den 1000 leckeren Vorspeisenzubereitungen satt zu essen und fertig! Der Rest ist ja auch nicht schlecht - aber eben auch nicht sooo gut. Hier gibt es danach auch keinen Espresso, sondern Kaffee im Mokka-Stil. - Auf der Rechnung findet sich übrigens die Position "2 Gedecke - 0,00 €". Das scheint unter venezianischen Gastwirten ein Glaubenskrieg zu sein (wo ich doch heute über allerhand Religiöses schreibe): soll man das Gedeck in Rechnung stellen oder nicht? Die, die es in den übrigen Preisen einkalkuliert haben und daher nicht separat berechnen, machen damit gern Werbung, am liebsten mehrsprachig. Aber das kann auch tückisch sein. Die beste Variante gab es bei den "Sportivi" (ich berichtete), wo man verwundert in der deutschen Variante "Kein Gedeck ohne Aufpreis" lesen kann. Buohahaha!
Fast hätte ich übrigens vergessen zu erwähnen, dass wir vor dem Essen noch einen Abstecher zum Mumien-Gucken in der Kirche San Geremia gemacht haben. In einem schönen Kleid und mit einer anmutigen Silbermaske auf dem Gesicht liegt hier die heilige Lucia, Hüterin des Gesichtssinns, mit gefalteten Mumienhänden und nackten Mumienfüßen. Das Lucia-Merchandising ist heftig …!
Nun bleibt nur zu hoffen, dass der Regen und der ziemlich frische Wind von heute Nachmittag nur ein kurzes Intermezzo waren. Heute abend war es jedenfalls schon wieder weniger frisch.
Sonntag, 18. September 2011
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